SELFSPEZIAL aktuell  SPEZIAL Advent  SELFSPEZIAL Adventskalender 1999


SPEZIAL Advent - 23. Dezember 1999

Diese Seite ist ein Dokument mit Informationstext

 Eine (etwas traurige) Liebesgeschichte...

 

Eine (etwas traurige) Liebesgeschichte...

Die folgende Geschichte stammt aus einem französischen Kinderbuch von L. Bourliaguet (Le Marchand de Nuages - Collection Spirale, Éditions G.P., Paris - einer kleinen Sammlung von Erzählungen und Märchen) und wurde von PAF, dem diese Geschichte sehr viel bedeutet, ins Deutsche übersetzt.

Die Illustrationen sind von René Péron und wurden ebenfalls dem Buch entnommen.

 

Der Möwenspiegel

Autor unbekannt
aus dem Französischen übersetzt von Patrick Andrieu

Am Rande des weiten Ozeans, zwischen dem lärmenden Wasser und dem schlafenden Sand, wurde eine kleine Seemöwe geboren, die so niedlich und so hübsch war, dass alle anderen Möwen, so auch ihre eigene Mutter, eifersüchtig wurden. Gerade, dass man sie nicht wieder ins Ei gesteckt hatte, bevor sie richtig ausgeschlüpft war!

Es geschah am Strand von Vert-Bois, im Westen der Île d' Oleron.

Die Rabenmutter der hübschen Möwe konnte ihre Tochter nicht leiden und sagte ihr untentwegt: "Mein Kleines, wären Sie bloß nicht auf die Welt gekommen! Ihre Federn wachsen schief, Ihre Füße sind schräg, Ihr Schnabel sieht aus wie ein misswachsener Dorn und Ihre Augen können sich nicht darauf einigen, in eine Richtung zu schauen!". Und alle anderen Möwen schrieen mit: "Hu! Hu! Hu! Welch hässlicher Vogel!"

Was aber sagten die Möweriche?

Die Möweriche? Ach! Die Möweriche wussten von nichts: Die Möwen hatten ihnen die Geburt des schönen jungen Geschöpfs geheimgehalten, wohl aus Angst, diese würden das hübsche Kind zu ihrer Königin küren.

Für Miawe - so hieß die hübsche Möwe - gab es leider keinen Weg festzustellen, dass man sie betrog: Das stets stürmische Wasser des Ozeans wollte ihr Bild nicht widerspiegeln. Sie hielt sich also selbst für einen abschreckend hässlichen Vogel.

Des ständigen Genörgels satt beschloss sie, als eines Tages Möwen und Möweriche zur Nordspitze der Insel flogen, hier am riesigen Strand von Vert-Bois, zwischen dem lärmenden Wasser und dem schlafenden Sand, zu bleiben.

Etwa zur gleichen Zeit, zwischen den sesshaften Feldern und den flüchtigen Wolken, war ein kleiner Rabe zur Welt gekommen, der so hässlich war, dass alle anderen Raben, so auch sein Vater, sich seiner schämten.

Dies geschah in der Nähe von Grand-Gibou im Herzen der Île d' Oleron.

Der Rabenvater des hässlichen kleinen Raben, der seinen Sohn nicht leiden konnte, sagte zu jeder Gelegenheit zu ihm: "Mein Sohn, wären Sie bloß in ihrem Ei geblieben, welches ja noch schön war. Ihr Federkleid ist löchrig, ihre Füße schief gewachsen, Ihr Schnabel sieht aus wie ein rostiger Nagel und Ihre Augen schielen!"

Und leider stimmte es! Er war wirklich so hässlich und alle anderen Raben krächzten: "Kroa! Kroa! Kroa! Welch hässliche gefiederte Kröte!".

Der traurigen Wahrheit satt beschloss er eines Tages, die Inselmitte und ihre sesshaften Felder und flüchtigen Wolken zu verlassen, und flog zum Strand von Vert-Bois, zum lärmenden Wasser und zum schlafenden Sand.

Und hier begegnete ihm Miawe, der langsam langweilig geworden war.

Der Rabe fand die kleine Möwe so schön, dass er sogar zögerte, sich ihr zu nähern, wohl aus Angst, verspottet und verachtet zu werden. Aber Miawe, für die der hässliche schwarze Vogel eine willkommene Gesellschaft bedeutete, ging freundlich auf ihn zu. "Warum haben Sie die anderen Raben verlassen?", wollte sie von ihm wissen. "Weil ich ja so hässlich bin", antwortete der Rabe mit einem traurigen Lächeln. "Nicht so sehr, nicht so sehr: Ihre Verwandten haben übertrieben!", erwiderte Miawe und ihre Worte erhellten die Augen des schwarzen Vogels wie ein Glücksfunke.

Der Rabe traute sich sogar, Miawe eine Frage zu stellen: "Und was ist mit Ihnen, warum haben Sie die Möwen ohne Sie nach Norden ziehen lassen?".
"Weil ich ja so hässlich bin, ja, das haben sie oft genug gesagt!" antwortete die hübsche Miawe. "Die Möwen haben gelogen und ich werde es Ihnen beweisen!" empörte sich der Rabe.

Dieser Austausch von Komplimenten verwandelte beide Einzelgänger in Freunde. Sie fanden Gefallen aneinander und lebten von nun an zusammen am leeren großen Strand von Vert-Bois, welcher so etwas wie ihr Königsreich wurde. Sie durchsuchten zusammen den Sand nach Nahrung, nahmen Bäder im kühlen Meeresschaum, flogen Flügel an Flügel im Meereswind und schliefen nachts aneinander gekuschelt im Schutz der nach wilden Nelken wohlduftenden Düne. Sie waren miteinander zufrieden und glücklich, als wäre der Rabe so schön wie seine geliebte Miawe oder Miawe so hässlich wie ihr geliebter Rabe. Hören wir hier auf?

Nein, nein! Weiter, weiter!

Schade! Es wäre besser gewesen, aber da Sie wissen wollen, wie die Geschichte weiter geht, bitte.

Ihr Glück wurde lediglich durch den traurigen Blick gestört, der gelegentlich Miawes hübsche Augen trübte. Der Rabe, dem diese traurigen Momente nicht entgingen, fragte sie dann:" Woran denken Sie, meine Liebste?"
"Mein lieber Freund, ich denke daran, wie hässlich ich bin"
"Albern", erwiderte der Rabe. "Ich versichere Ihnen, dass Sie sehr schön sind!"
"Das sagen sie zwar, aber es ist nur ein nettes Kompliment! Ich warte auf den Beweis, den Sie mir versprochen haben..."
"Ich werde mein Wort halten, ich werde mein Wort halten!", regte sich der Rabe auf.

Und er versuchte, seine zarte Freundin von ihrer Schönheit zu überzeugen: "Sehen sie, wie zart Ihr Schatten auf dem Sand doch ist!"
"Sie scherzen, lieber Freund, es ist eine Karikatur."
"Der Wind streichelt Ihr Gefieder mit Respekt während er mich wie einen schwarzen Staubwedel wider den Strich kämmt!"
"Es hat nur damit zu tun, dass er mich mit der rechten, während er Sie mit der linken Hand kämmt!"
"Hier bitte! In diesem kleinen Stück Glas können Sie Ihr hübsches Spiegelbild bewundern!"
"Sie spotten, lieber Freund, ich kann gerade meine Schnabelspitze darin entdecken!"
Verzweifelt musste der Rabe darauf warten, dass Miawes natürliche Fröhlichkeit wiederkehrte: dann fing Ihr Glück, zusammen zu sein und sich zu lieben, von Neuem an.

Weise wäre der hässliche kleine Rabe gewesen, wäre er doch bei diesem Schatten, bei diesem Wind, bei diesem Stück Glas geblieben. Soll ich wirklich die Geschichte zu Ende erzählen?

Ja, ja!

Schade, das Ende ist traurig!

Eines Morgens, nachdem eine kühle Nachtbrise seine Gedanken etwas aufgefrischt hatte, hatte der Rabe einen Einfall, den er wunderbar fand.
"Liebste", sagte er, sobald seine Freundin aufwachte, "kommen Sie, kommen Sie geschwind! Ich weiss, wo ich Ihnen beweisen kann, dass Sie die schönste aller Möwen sind, die je über die Strände Olerons geflogen sind."
Energischen Flügelschlages führte er Miawe zu den Salzlachen am anderen Ende der Insel.

Es waren lange Reihen großer Becken mit sehr ruhigem Wasser. Und hier, sich über das unbewegte Wasser lehnend, lernte Miawe all das, was ihr die stürmische Oberfläche des Ozeans nie hatte verraten wollen: Dass noch nie in der Geschichte Olerons eine derart anmutige Möwe auf den Sand gelaufen, im Meereschaum gebadet und hoch über den Strand geflogen war.

Das lehrte sie der klare Spiegel der großen Salzbecken.

"Meine Mutter und meine Tanten haben dies den Möwerichen geheimgehalten, sagte Sie. Liebster Freund, ich muss ihnen wohl die Wahrheit zeigen. Warten Sie bitte solange auf mich in unserem Reich in Vert-Bois, ich bin heute abend wieder da." Und sie flog davon, um den Möwerichen im Norden der Insel zu zeigen, dass sie nicht so hässlich war, wie man es ihnen immer gesagt hatte.

Sie kam nie zurück.

Und der arme Rabe suchte, um etwas Trost zu finden, nach ihren Spuren im feinen Sand von Vert-Bois: Sie waren wie hübsche Sterne, gleichmässig neben seinen eigenen Spuren angereiht, welche Ähnlichkeit mit nichts hatten. Und an manchen Stellen hielt er an und seufzte:" Und hier hatte sie einen Wurm mit der schönsten Anmut der Welt verzehrt".

Und, Kroa, Kroa, er weinte im langgezogenen Rauschen der Wellen.


SELFSPEZIAL aktuell  SPEZIAL Advent  SELFSPEZIAL Adventskalender 1999

© 1998 Layout und Design:  SELFHTML
© 1999 Themenwahl und Ideen:  Patrick Andrieu