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SPEZIAL Advent - 2. Dezember 1999

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 Eine kleine Geschichte...

 

Eine kleine Geschichte...

Die folgende Geschichte von Sandra Paretti wurde dem SELFSPEZIAL - Team von Kess freundlich überreicht. Da SELFSPEZIAL in so kurzer Zeit niemanden kontaktieren konnte, hoffen wir, dass es keine Probleme bezüglich des Copyrights geben wird.

 

Ein unscheinbares Buch

von Sandra Paretti

Im siebten Fach meiner Bibliothek, zwischen den Gesamtausgaben von Stendhal, Adalbert Stifter und Tagore, steht ein schmaler, schilfgrüner Einzelband. Das Papier ist bräunlich und rau, der Satz gedrängt, die Schnittkanten sind unregelmäßig. Objektiv betrachtet: ein hässliches Buch. Ich sehe es mit anderen Augen an. Ich liebe dieses Buch mit seinem bräunlichen Papier und seinen unregelmäßigen Schnittkanten. Ich habe es gelesen, immer wieder gelesen. Meine Liebe zu diesem Buch begann sehr früh. Es war im Frühling 1940 und ich war fünf Jahre alt.

Noch heute sehe ich das Päckchen vor mir, das der Postbote gebracht hat. Es ist gelbes, ein dickes gelbes Kuvert, rundum zugeklebt und verschnürt. Es ist an meine Mutter adressiert, aber der Postbote gibt es mir. "Hier mein Fräulein." Von meiner Mutter will er eine Unterschrift. "Wenn ich bitten darf." Er hält ihr ein Heft hin, er gibt ihr einen Stift und deutet auf die Spalte, wo sie den Namen hinsetzen soll.

"Zeig mal..." meine Mutter nimmt das Päckchen und sucht den Absender. Dann gehen wir ins Wohnzimmer zum Nähtisch am Fenster. Ich knie mich auf den Stuhl und sehe ihr zu. Sie löst die Schnur, sie schneidet das Kuvert auf. Aus dem ersten Päckchen kommt ein zweites Päckchen. Sie befühlt das Papier, schilfgrünes Seidenpapier.
"Ein Buch!"

Das Papier fällt zu Boden und meine Mutter hält ein grau kartoniertes Buch in den Händen. "Adalbert Stifter!"

Eben noch war sie misstrauisch - sie öffnet jeden Brief mit Misstrauen - jetzt geht eine Wandlung mit ihr vor. Die Hände, die Augen, die Stimme, aus allem spricht Freude.
Sie liest viel. Sie hat einen Schrank voller Bücher. An ihren Geburtstagen und an Weihnachten fehlt nie ein Buch auf dem Gabentisch, aber diese Bücher schenkt sie sich selbst.

"Von wem ist das Päckchen?" will ich wissen.
"Von einer Freundin. Du kennst sie nicht. Sie lebt in Weiden. Sie ist Lehrerin. Betty Scheidt... Früher hat sie mir oft aus diesem Buch vorgelesen."
"Es ist kein neues Buch?"
"Nein, sie hatte es schon, als ich sie kennen lernte. Siehst Du das Ex Libris mit ihrem Namen und darunter die Widmung für mich. "Für meine Freundin Maria."

Bevor der Postbote das Päckchen brachte, war es ein normaler Werktag. Das Buch hatte alles verändert. Meine Mutter vergisst den Haushalt und die Küche. Sie zieht die Schürze aus, erzählt mir von den Lesenachmittagen mit ihrer Freundin. "Wir haben nicht nur gelesen, wir haben auch gestickt. Seidenstickerei nach chinesischen Vorlagen. Schals, Decken. Eine stickte und die andere las vor, abwechselnd. Da schau..." Sie nimmt das Lesezeichen aus dem Buch und legt es vor mich hin: schilfgrüne Seide mit ein paar weißen Blüten.

"Hat sie das gestickt?"
"Ja."
"Und sie hat dir aus diesem Buch vorgelesen?"
"Ja, aus diesem und aus anderen, vor allem französischen. Aber aus diesem besonders oft. Wir haben beide Stifter sehr gern. Das heißt, eigentlich habe ich ihn erst durch sie entdeckt."
"Wie heißt das Buch?"
" 'Bunte Steine'. Es sind Erzählungen."
"Lies mir daraus vor, bitte."
Sie lächelt. "Eigentlich ist das nichts für ein Kind."
"Bitte!"
Sie blättert, hält inne, schüttelt den Kopf, blättert weiter.
"Lies mir die Geschichte vor, die Du am liebsten hast." Sie hat bereits gefunden, was sie suchte. " 'Bergkristall'. Das ist die Geschichte von zwei Kindern, Bruder und Schwester, die ..."
"Nein, nichts verraten. Ich will nichts vorher wissen!"
Sie zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich.
"Lange haben wir nicht Zeit, ich muss bald Mittagessen kochen." Dann beginnt sie vorzulesen: Von einem Tal im Gebirge, von einem kleinen Dorf mit seinem spitzen Kirchturm, dessen Schindeln rot bemalt sind; von einem Marktplatz mit vier Linden; von einem Schuhmacher, der eine junge Frau hat und zwei Kinder, Konrad und Sanna. Es ist Winter, die schneeweißen Berge und die bereiften Felshänge glitzern in der Sonne wie ein Zauberpalast...

Als meine Mutter in die Küche geht, bleibe ich bei dem Buch. Langsam wandern meine Augen über die Seiten. Was gäbe ich darum, lesen zu können! Ich weiß, nächstes Jahr komme ich in die Schule, dann lerne ich lesen. Aber wann ist das, nächstes Jahr? Vielleicht hat meine Mutter am Nachmittag Zeit und liest mir wieder vor. Oder am Abend. Ich werde sie immer wieder bitten.

Mittags sieht mein Vater das Buch liegen. Er nimmt es und schneidet ein Gesicht. "Wieder mal ein Ladenhüter von Deiner Freundin aus Weiden. Sowas Billiges von Einband, und dann das Papier..."
Meine Mutter nimmt ihm das Buch aus den Händen. "Du hast recht, es ist ein unscheinbares Buch, aber sie hat mir eine große Freude damit gemacht."
"Sie verdient doch gut als Lehrerin. Sie könnte auch mal etwas Neues kaufen. Ein gebrauchtes Buch verschenkt man einfach nicht. Das ist meine Meinung."
"Dieses Buch ist für mich wertvoller als das schönste neue. Es ist ein Stück von ihr selber."

Der Stifter steht nicht vergessen im Schrank. Dafür sorge schon ich. Immer wieder bitte ich meine Mutter mir daraus vorzulesen. Immer wieder möchte ich die Geschichte hören von Konrad und Sanna, die sich im Winterwald verirren. Später, als ich in die Schule komme, werden die BUNTEN STEINE mein heimliches Lesebuch. Für den Fall, dass meine Mutter mich ertappen sollte, habe ich als Tarnung einen Einband aus demselben blauen Papier wie für meine Schulbücher. Natürlich achte ich darauf, keine Spuren zu hinterlassen, keine Flecken, keine Eselsohren. Das geschieht nicht aus angst vor meiner Mutter, sondern aus Liebe zu dem Buch. Stifters BUNTE STEINE sind in guten Händen bei meiner Mutter und bei mir. Trotz des billigen Einbands, trotz des schlechten Papiers sähe das Buch heute noch so aus wie damals. Aber im Leben von Büchern wie im Leben von Menschen gibt es höhere Gewalten: Gegen Ende des Krieges werden Flüchtlinge aus dem Osten bei uns einquartiert. Sie brauchen den Bücherschrank für Wäsche, Geschirr, Lebensmittel, und wir müssen die Bücher in Kisten packen. Der Speicher ist zu unsicher wegen der Bombenangriffe, also schaffen wir die Kisten in den Keller. Wenn wir Glück haben, kommt im Frühling kein Hochwasser...

Wir haben kein Glück und das Hochwasser kommt. Jetzt müssen wir mit den Büchern doch auf den Speicher. Was zu unterst in den Kisten lag, kann man nicht mehr Bücher nennen, das ist nasses Altpapier. Die anderen versuchen wir zu retten. Wir hängen sie zum Trocknen auf die Wäscheleine, wir breiten sie am Boden aus. Die BUNTEN STEINE haben sich in Einzelteile aufgelöst, Umschlag, Vorsatzpapier, fliegende Blätter. Wir trocknen, bügeln, beschweren mit Gewichten. Das bräunliche Papier bricht uns unter den Händen. Meine Mutter rafft die Blätter zusammen. "Zum Altpapier!"

Ich bin still, aber in einem unbeobachteten Moment bringe ich die Reste des Buches an mich. Ich ordne die Blätter, zähle sie durch, bis ich sicher bin, dass keines fehlt. Nur das Vorsatzpapier mit der Widmung ist verschwunden. Dann schlage ich die Blätter in Papier ein, verschnüre das Bündel und verstecke es bei meinen Schulsachen.

Es vergehen Jahre. Wir sind von Regensburg weggezogen und leben in München. Den Stifter habe ich mitgenommen. Manchmal spricht meine Mutter davon, sich eine Stifter-Ausgabe zu kaufen; manchmal schauen wir uns in einer Buchhandlung an, was es so gibt. Dann sagt sie jedes Mal: "Es war ein Fehler, das Buch wegzuwerfen. Ein Buchbinder hätte es retten können."

Der erste Buchbinder, dem ich es zeige, lehnt die Arbeit ab. Auch der zweite hebt abwehrend die Hände und rät mir, ein neues zu kaufen, das sei billiger. Ich bitte ihn und er beginnt die Arbeitsstunden auszurechnen. Das Buch muss neu aufgebunden werden, es braucht neue Deckel, einen neuen Rücken. Die Ränder müssen neu geschnitten werden. Es wird dreimal soviel kosten wie ein neues Buch - "und dann ist es immer noch kein schönes Buch."
"Es war nie ein schönes Buch, es war immer ein unscheinbares Buch."
Nach drei Wochen kann ich es abholen. Aus den fliegenden Blättern ist wieder ein Buch geworden. Ich habe Seidenpapier mitgebracht., ein gelbes Kuvert und eine Schnur. Auf dem Ladentisch des Buchbinders mache ich das Päckchen fertig. Dann gehe ich zur Post und schicke es eingeschrieben an meine Mutter. Ich bin zuhause, als der Postbote es bringt. Meine Mutter muss unterschreiben. Misstrauisch dreht sie das Päckchen in den Händen, geht zum Nähtisch am Fenster, setzt die Brille auf. Sie löst die Schnur, schneidet das Kuvert auf. Aus dem ersten Päckchen kommt ein zweites Päckchen. Sie befühlt das Papier, schilfgrünes Seidenpapier.
"Ein Buch!"
Das Papier fällt zu Boden und meine Mutter hält das Buch in den Händen.
"Adalbert Stifter!"
Sie blättert, hält inne, blättert weiter. Ihr Gesicht wird immer heller vor Freude.
"Die losen Blätter, die ich zum Altpapier geworfen habe?"
"Ja."
"Du hast sie herausgeholt und all die Jahre aufgehoben ?"
"Ja."
Sie zündet sich eine Zigarette an und blättert wieder in dem Buch. Als sie eine Seite entdeckt, die in drei Teile zerrissen war und jetzt auf durchsichtige Folie aufgezogen ist, lacht sie.
"Was hat der Buchbinder gesagt, als du ihm die losen Blätter brachtest?"
"Er wollte es nicht machen. Er fand, dass es nie mehr ein schönes Buch wird."
"Und was hast du ihm gesagt?"
"Dass es immer nur ein unscheinbares Buch war."


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